AM47 – Brief an Walter Gropius
New York, Mittwoch, 16. und Donnerstag, 17. November 1910


16. Nov

10.30h nachts.

[Postskriptum:] Ich liege im Bett, darum die krause Schrift[.]

Mein Endlich eine ruhige Stunde! Ich warte seit Tagen – da ich wieder einmal recht elend war – war ich nie allein – sondern immer mit „Liebenden“ umgeben. Liebende bitte recht zu verstehen.

Jetzt hat aber Dr mich in die Hand genommen. U. er sagte mir . . . dass es das Einzige sei auf Erden[,] was ihn noch interessire, mich gesund zu machen. – Das wäre ein Arzt für Dich – Himmel! – ist rührend lieb – immer weiter. Er hat 6 Concerte dirigirt[.] —

Alles[,] was er macht, macht er

so voll – so ganz – an dem kann man sich wirklich lernen, wie man leben soll: Freilich et[w]as mehr Heiterkeit sollte man schon auch ins kurze Leben bringen – und hie u. da auch „dumm[“] sein können! – – Weißt Du, wie wir das erste Mal in Graz!!! – All diese Menschen – von damals – sind für mich hintunter – in die wohlverdiente Vergessenheit – aber Dich hab’ ich mir an diesem tollen Nachmittage errungen – ich sehe Dich noch ganz so, als ich Dich das erste Mal sah!! –

Und all das[,] was folgte, soll für ein „Nichts“ gewesen sein? Da würde man den Weltgeist missverstehen!

Meine Liebe zu Dir gibt mir Reichthum – ewige Jugend – Glück – – ich liebe Dich! – —

Wir müssen aufeinander

warten – wir müssen der Welt und uns zeigen, was unsre Liebe im Stande ist. Es ist möglich, dass ich am 1. März nach Europa zurückgehe – angeblich wegen des Hausbaues am Semmering – aber – – — ach – da müssten wir uns et[w]as Herrliches ausdenken . . . . . vorausgesetzt – dass Du noch mein bist, so mein – wie einzig ich Dich will.

übrigens war nie unsre Freundin – sie ist eine zu dumme Person – und hat sie aus der Oper hinausgeschmissen[.] —

Lass’ Dich nicht ein mit

solchen Ruhmkünstlern.

Was macht mein Körper? Pflege ihn für mich! —

An Dir liebe ich Schönheit – und nie noch hat mich körperliche Schönheit bei einem Manne gefesselt. – Weißt Du noch, was ich Dir im ersten Briefe schrieb? – – – – –

In Gen Wall Street war ich erst einmal – es ist ungeheuer schwer für mich[,] dahinunter zu kommen – – ich hoffe in den nächsten Tagen! – Was thuts? —

Über alle Hindernisse hinweg liebe ich Dich ewig.

Deine

Mein .

Ich habe heute ein Lied fertig gemacht – bis jetzt gefällts mir noch ganz gut. —


[Postskriptum:] Ich küsse alles mir so liebe an Dir[.] — Mein

Mein liebstes Herz – Nachdem ich gestern Abend den andern, mir heute dünn und farblos scheinenden Brief geendet hatte – nahm ich Deine ganzen Briefe vor – und Deine lieben Bilder . . . . . ! So saß ich lange im Bett – sann und sann – und liebte . . . . liebe!!

Sei voll Selbstvertrauen – Du hast alles, was ein Mensch sich wünschen kann[.] – Schön und rein an Körper und Seele – noble Rasse bis in die Fingerspitzen – hoffent-

lich nicht zu nobel – die Fruchtbarkeit ist schließlich wichtiger – als . . . alle Noblesse . . . . Arbeite – erringe – für mich – aber denke mir mit Deinen 3[ten] – & 4ten Gedanken ans Materielle[.] Schaff Dir Ellbogen an, für Deine famosen Ideen . . . .

Könnte ich Dich doch nur hier haben – oder – bei Dir sein. – Momentan genieße ich New York – aber nicht die „society“ – Greuel aller Greuel – die wirkliche unbewusste Schönheit, – den Reiz der elektrisirenden Luft[,] unsre Concerte – und fühle mich so reich, weil ich doch Deine Liebe mit mir herumtrage[.]

[Postskriptum:] Schreibe nicht mehr ins Hotel[.]


Apparat

Überlieferung

, , , , , .

Quellenbeschreibung

3 Bl. (6 b. S.) – Briefpapier mit dunkelblauem Monogramm (Zum Material von Alma Mahler) aus den stilisierten Initialen AMs in Prägedruck () sowie Briefpapier mit Aufdruck: „CONTINENTAL HOTEL | L. ADLON H. KLICKS | BERLIN, N. W. | NEUSTÄDT. KIRCHSTR. 6/7“ () und Briefpapier mit Aufdruck: „HOTEL SAVOY | FIFTH AVENUE & FIFTY-NINTH STREET | NEW YORK“ (); Blattzählung AMs (, ).

Beilagen

Umschlag, , Germany | Berlin W | Nikolsburgerplatz 4. G. IV | Herrn Walter Gropius; PSt.: GRAND CENTRAL, STA. N.Y. | Nov 17 | 1 – PM | 1910; von WG mit einer 5. (Zur Nummerierung von Alma Mahlers Briefumschlägen) sowie dem Empfangsdatum 28.11.10 versehen.

Druck

, S. 445, bei Anm. 89 (Auszug), , S. 1050, bei Anm. 370 (Auszug in engl. Übersetzung).

Korrespondenzstellen

Antwort auf WG93 vom spätestens 1. November 1910 (Soeben habe ich mit Lola Be[e]th zu Abend gegessen): Lola Be[e]th übrigens war nie unsre Freundin – sie ist eine zu dumme Person. Beantwortet durch WG106 vom 28. November 1910 (Häßlichkeit \würdest Du mich dann noch lieben. Ausreizung/): An Dir liebe ich Schönheit – und nie noch hat mich körperliche Schönheit bei einem Manne gefesselt, WG108 vom 28. November bis 1. Dezember 1910 (Gespräch über Rassen Lust d. Individuen zur Zeugung nimmt ab mit dem Überwiegen der Intelligenz): Du hast alles, was ein Mensch sich wünschen kann[.] – Schön und rein an Körper und Seele – noble Rasse bis in die Fingerspitzen – hoffentlich nicht zu nobel – die Fruchtbarkeit ist schließlich wichtiger – als . . . alle Noblesse . . . . und WG109 vom 28. November bis 1. Dezember 1910 (Du sagst ich habe alles was ein Mensch sich wünschen könne): Du hast alles, was ein Mensch sich wünschen kann.

Datierung

Absendedatum: „17 Nov. 1910“ (, S. 1050, Anm. 370).

Schreibdatum: „‚16. Nov‘ 1910“ (, S. 445, Anm. 89), irrtümlich „undated letter“ (, S. 1050, Anm. 370).

Der vorliegende Brief AM47 wurde am 16. Nov[ember] 1910 begonnen und am darauffolgenden Tag, den 17. November (Poststempel) fortgesetzt (Nachdem ich gestern Abend den andern, mir heute dünn und farblos scheinenden Brief geendet hatte […]).

Übertragung/Mitarbeit


(Jannik Franz)
(Tim Reichert)


A

Dr Fraenkel , langjähriger Freund und Hausarzt der Familie Mahler in New York.

B

6 Concerte – Am 24. Oktober 1910 hatte ein Benefizkonzert an Bord des Schnelldampfers Kaiser Wilhelm II am Klavier begleitet (, S. 277) und seit seiner Ankunft in New York am 25. Oktober 1910 dort fünf Konzerte dirigiert, zuletzt am 15. November 1910. Das nächste sollte am 18. des Monats folgen (, S. 285).

C

das erste Mal in Graz – s. WG1 vom 4. bis 30. Juni 1910: 1. Tag in Graz.

D

Weltgeist – In Bibliothek standen aus Nachlass Goethes sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, darunter deren im Jahr 1902 von in der Cotta’schen Buchhandlung zu Stuttgart und Berlin herausgegebene zweiter Band, dessen zweiter Teil das Gedicht beinhaltet (, S. 68), darin der Appell: „mit dem Weltgeist selbst zu ringen“. Ferner finden sich dort Randmarkierungen über den gesamten Text in für typischer „purple ink“ (, S. 511).

E

wegen des Hausbaues am Semmering – s. Themenkommentar: Haus Mahler.

F

Eingerahmt.

G

Gustav hat sie aus der Oper hinausgeschmissen – Unter hatte in Wien „einen nur sehr bescheidenen Wirkungskreis auszufüllen“ (, S. 14). Die genauen Umstände ihrer Entlassung sind unklar, vermutlich passte sie nicht in Pläne zur Umbesetzung und Verjüngung des Ensembles, s. , S. 122f.

H

Dreifach unterstrichen.

I

Dreifach unterstrichen.

J

im ersten BriefeAM1 vom 16. Juli 1910. Darin heißt es zu Beginn: Walter Es ist plötzlich so viel Schönheit in mein Leben gekommen denn Du bist der Inbegriff des Schönen für mich! Bleib es! Ich erwarte alles von Dir.

K

Ursprünglich: Im.

L

Gen Wall Street – vgl. AM49 vom 30. November 1910: General P.[ost] O.[ffice] und s. AM44 vom 1. November 1910: Wall Street.

M

ein Lied fertig gemacht – wahrscheinlich aus : „“ oder „“ nach Gedichten , vgl. AM48 vom 23. November 1910: Dehmel. In der Publikation sind einzig diese beiden Lieder auf das Jahr 1911 datiert. Näheres zur gemeinsamen Umarbeitung von „“ durch und bei und , jeweils S. 23f. sowie in Themenkommentar Alma Mahlers publizierte Lieder.

N

„society“ – s. , S. 2–5 und , S. 153–171.

O

ins Hotel hatte seinen Brief Nr. 5) vom 1. November 1910 direkt ins Hotel versandt, s. Absendeliste in WG92 vom 21. Oktober 1910 bis 7. April 1911.